Deutsche Unternehmen haben weltweit Spitzenpositionen erobert. Doch die Bedrohung des Erreichten wird zum neuen Dauerzustand, der Umbau der Firmen in bewegliche Organisationen zur Existenzfrage. Die Ersten haben damit begonnen.
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Die Mitarbeiter des TÜV sind stolz auf ihre Tradition. Seit über 150 Jahren steht der Technische Überwachungsverein für Sicherheit, anfangs von Dampfkesseln, danach von Fahrzeugen, heute von Geräten aller Art. Niemand in Deutschland verfügt über einen größeren Schatz technischen Wissens.
Doch Stolz und Know-how reichen nicht aus in Zeiten, in denen neue Spieler schamlos Traditionen brechen und gezielt angestammte Geschäfte angreifen. Elon Musk, der Chef des amerikanischen Elektroautobauers Tesla, schert sich nur wenig um die Zulassung seiner Modelle für den öffentlichen Straßenverkehr. Stattdessen spielt er unablässig Software-Updates auf seine Fahrzeuge, mehr als hundert in den vergangenen zwei Jahren. Die Veränderungen beeinflussen ganz klar die Sicherheit und die Funktionsfähigkeit der Autos.
Für die Mitarbeiter des TÜV bedeutet dies, dass sie sich langfristig nicht mehr auf die Prüfung von Bremsen, Licht und tragenden Karosserieteilen beschränken können, sondern die permanente Überwachung der Software ins Auge fassen müssen. Darum hat der TÜV eine Abteilung geschaffen, die sich solcher Themenfeldern annimmt. Und er hat sich an Start-ups beteiligt, um von deren Wissen, Spirit und Arbeitsweise zu profitieren.
Der TÜV ist nicht der einzige Traditionalist hierzulande, der neue Wege einschlägt, um fundamentale Veränderungen auf den Märkten wie im alltäglichen Geschäft zu bewältigen. Ob der Autobauer BMW, sein Pendant Porsche oder der Sensorenhersteller Sick, sie alle haben sich einem neuen Managementansatz verschrieben. Und dieser heißt Agilität.
Agilität ist das Gegenteil von Planerfüllung
Was auf den ersten Blick altbekannt scheint, beinhaltet in Wahrheit einen grundsätzlichen Wandel in der Unternehmensführung. Agilität bedeutet weit mehr, als flexibel zu sein, etwa um eine kurzfristige Nachfrage befriedigen zu können.
Agile Unternehmen handeln proaktiv und antizipativ. Das heißt, sie versuchen, eine höchst ungewisse Zukunft vorauszuahnen und sich für diese zu wappnen. Zugleich sind sie in der Lage, sofort umzusteuern, wenn sich ein eingeschlagener Weg als Sackgasse erweist. Damit werden die vielerorts noch üblichen Fünf- oder Zehn-Jahrespläne zu naiven Sandkastenspielen vergangener Zeiten.
Agilität ist das Gegenteil von Planerfüllung, hat aber nichts mit Planlosigkeit zu tun. An die Stelle starrer Ziele treten viel mehr Visionen. Diese sind als eine Art Haltepunkte zu verstehen. Sie dienen nicht nur dazu, den Fortschritt eines Projekts und das Erreichen eines Ziels zu messen. Sie sind zugleich auch Knotenpunkte, an denen das Management immer wieder von Neuem entscheiden muss, ob es bei der eingeschlagenen Richtung bleibt.
Das umfasst selbstverständlich auch eine mögliche Revision oder eine Nachjustierung der Ziele. Dazu müssen die Unternehmenslenker mehr Orientierung bieten und weniger einengende Vorgaben machen als bisher, so vage die Visionen für eingefleischte Chefs und Controller klingen mögen.
Agilität ist eine Führungsdisziplin
BMW etwa hat die Vision ausgegeben, sich zur „individuellen Premium-Mobilität von morgen“ wandeln zu wollen. Ob dies durch den direkten Verkauf von Fahrzeugen, durch Leasing, durch Car-Sharing oder durch eine Flatrate für Fahrzeuge auf Abruf geschieht, ist völlig offen. Alle Optionen sind wie Leuchttürme, die gegebenenfalls einen Kurswechsel ermöglichen.
Der Sensorenhersteller Sick im badischen Waldkirch, der für die Digitalisierung der Fertigung steht, hat seine langfristigen Unternehmensziele in eine Story verpackt. In Bildern und Videosequenzen werden den Mitarbeitern der Wagemut, Erfindergeist und Innovationsdrang des Gründers seit Ende des Zweiten Weltkriegs vorgeführt und die Ziele des Unternehmens präsentiert, „nach den besten Lösungen für Kunden und nach konstantem Wachstum zu suchen“. Welche Art von Sensortechnik damit gemeint ist, bleibt ausdrücklich offen.
Agilität ist eine Führungsdisziplin. Es geht darum, Gruppen von Menschen im Unternehmen dazu zu befähigen, gemeinsam, selbstständig und frühzeitig die Notwendigkeit für einen Richtungswechsel zu erkennen.
Das mindert nicht den Wert bisheriger Methoden wie kontinuierliche Verbesserungen oder Effizienzsteigerungen durch Lerneffekte. Das Neue an der Agilität liegt darin, dass die gemeinsame Suche nach Lösungen und die kollektive Intelligenz im Vordergrund stehen. Nach dem Motto: Ich habe eine Idee, du hast eine Idee, gemeinsam haben wir die Lösung. Dies zu gewährleisten, ist Aufgabe der Führungskräfte.
Eine Möglichkeit, Agilität in der Fertigung zu institutionalisieren, ist die sogenannte Produktklinik: Mitarbeiter aus verschiedenen Abteilungen versammeln sich um ein bestehendes Produkt, nehmen es buchstäblich auseinander, analysieren die Kosten und die Schwachstellen und entwickeln Verbesserungsideen bis hin zur Totalrevision. Am Ende wird aus den Vorschlägen die Lösung destilliert.
Für IT- und Digitalisierungsprojekte dagegen eignen sich Treffen ausgewählter Spezialisten, sogenannte Hackathons. Dazu lädt ein Unternehmen externe Programmierer ein und gibt ein bestimmtes Thema vor, für das sich die Teilnehmer innerhalb einiger Stunden Lösungen einfallen lassen sollen. So rief der Sportwagenhersteller Porsche im Mai vergangenen Jahres Start-ups aus dem Blockchain-Umfeld auf, um Anwendungen der neuen Digitaltechnik für den Automobilbau auszubrüten. Kein Jahr später stellte Porsche einen Prototyp vor, der den datentechnischen Zugriff auf das Auto, die Bezahlung von Mautgebühren oder das Aufladen von E-Autos revolutionieren soll.
Vorsicht vor zu viel Agilität
Das Beispiel Porsche zeigt, dass Agilität auch heißt, schnell pragmatische Zwischenlösungen zu entwickeln und auf den Markt zu bringen, um sie im Laufe der Zeit zu verbessern. Die Idee geht zurück auf einen Managementansatz in der Softwareentwicklung namens Scrum (Englisch für „Gedränge“). Scrum beruht auf drei Prinzipien, die auch für die Arbeitsweise agiler Teams essenziell sind: Transparenz für alle Beteiligten, Überprüfung der Ergebnisse in regelmäßigen Abständen und Anpassung der Ziele im Laufe der Entwicklung.
Vor zu viel Scrum und Agilität sei jedoch gewarnt. Denn grundsätzlich ist mehr Agilität nur in einem komplexen Marktumfeld sinnvoll, in dem sich Ziele schnell ändern und die Zukunft nebulös ist. Ein Bäcker muss nicht agil arbeiten, ein Softwareentwickler sollte es tun. Allerdings gewinnt Agilität zunehmend auch in Abteilungen wie Marketing, Entwicklung und Personal an Relevanz. Grundsätzlich ist mehr Agilität dann sinnvoll, wenn sie Prozesse flexibler und schlanker macht und die Entscheidungsfindung beschleunigt.
Agilität erfordert ein Umdenken zuvorderst im Topmanagement. Chefs müssen lernen, Teams mit Personen zu besetzen, die unterschiedliche Perspektiven einnehmen. Nur so ist gewährleistet, dass wachsame Augen den Lauf der Dinge aus verschiedenen Winkeln im Blick behalten. Das Topmanagement kann die Teams auch in Dauerunruhe versetzen, indem es diese mit gefährlichen Konkurrenten konfrontiert. Produktiv werden agile Teams aber nur, wenn sie sich in hohem Maße selbst kontrollieren. Im Gegenzug muss das Topmanagement Kontrolle abgeben.
Vermutlich entsteht durch die Erfordernis, mit agilen Teams auf neue Marktanforderungen zu reagieren, ein ganz neuer Managertyp. Zu Beginn der industriellen Entwicklung waren Befehl und Gehorsam gefragt. In der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts setzte sich das „Management by Objectives“ durch, bei dem der Chef den Mitarbeitern Unternehmensziele vorgab, an denen diese ihr Handeln auszurichten hatten; das schuf mehr Freiraum für alle Beteiligten.
Im Zeitalter der Agilität wird der Manager vom Generalplaner zum visionären Sparringspartner seiner Mitarbeiter. Dadurch erhalten Begriffe wie Leadership, Vertrauen, Motivation und Inspiration eine neue Bedeutung. Führungskräfte sind nun eher Menschenkenner als Fachleute, für das Projektmanagement gibt es inzwischen ja ausreichend Tools.
Tools für emotionale Intelligenz jedoch gibt es nicht. Die aber wird mit agilen Teams immer wichtiger. Denn nur wer emotionale Intelligenz besitzt, kann mit seinen Visionen Mitarbeiter mitreißen, ohne dass diese sich aus Angst vor der Digitalisierung wegducken oder aus Mangel an Orientierung verzetteln.
Der Autor leitet die Unternehmensberatung TCW in München, ist Professor an der TU München und BILANZ-Kolumnist.
Quelle: https://www.welt.de/wirtschaft/bilanz/article177398860/Unternehmensfuehrung-So-funktioniert-Agiles-Management.html